Wie der kleine Mausbär den Sonnenstein fand:

 

Alles war wie immer in dem Wald, wo der kleine Mausbär lebte. Es war warm, die Sonne schien und alle Tiere gingen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach : Die Biber badeten im glitzernden Fluss, die Häschen spielten fangen mit den kleinen Rehen , die Eichhörnchen sprangen von Ast zu Ast und der Herr Maulwurf grub sich eine neue Vorratskammer. Und unser kleiner Mausbär? Der sammelte natürlich wieder seine Steine ! Große, kleine, runde, graue oder wunderschön glitzernde.
Den Kopf voller schöner Träume ging er den Fluss entlang. Plötzlich sah er einen Fremden. Er war furchtbar zerzaust , hatte langes Fell und links und rechts vom Kopf je ein schneckenförmig gebogenes Horn. Seine Schnauze zierte ein prächtiger weißer Bart. Ein wenig furchterregend sah er schon aus , aber er grüßte den kleinen Mausbär freundlich : "Hallo ! Ich bin der Steinbock Hoch-Hinaus und der beste Kletterer in meiner Gegend! Was machst du hier ?" "Guten Tag", antwortete der kleine Mausbär höflich. "Ich bin der kleine Mausbär. Ich lebe hier in diesem Wald und sammle Steine. Sieh nur , was für hübsche ich schon gefunden habe!" "Die ollen Dinger?", fragte der Steinbock Hoch-Hinaus. "Bei uns in den Bergen, da gibt es noch viel, viel schönere ! Und einer , ja der ..." "Oh, bitte komm doch mit zu mir und erzähl mir mehr !", bat der kleine Mausbär . "Es gibt auch Tee und Kuchen!" Gerne nahm der Steinbock die Einladung an, denn er war sehr müde und hungrig. Außerdem gefiel ihm der kleine Mausbär, denn beide liebten sie Steine. Und so waren sie schon Freunde , noch bevor sie die Höhle des kleinen Mausbär erreichten.
Dort saßen die Beiden dann bei einer guten Tasse Tee und Schokoladenkuchen und der Steinbock Hoch-Hinaus sah sich all die vielen Steine in den Regalen an den Wänden an. "Nicht schlecht", sagte er . "Du warst sehr fleißig und die Steine sind auch sehr schön. Aber was dir noch fehlt ist etwas besonderes, einzigartiges!" "Alle meine Steine sind einzigartig!", maulte der kleine Mausbär. "Ja , schon ! Aber keiner ist der wie der Sonnenstein!" "Wie der was?" "Wie der Sonnenstein! Er hat viele Kanten, ist klar wie ein sprudelnder Bach, glitzert wie ein Wasserfall im Frühling und die tausend Farben des Regenbogens spiegeln sich darin. Es gibt nur wenige davon auf dieser Welt und sie liegen verborgen in den tiefen Höhlen der Berge, wo ich lebe , bis einer sie ans Tageslicht holt und sie ihren Zauber versprühen. Ich habe einen in meiner Jugend gesehen und werde ihn niemals vergessen. Niemals!" Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen hörte der kleine Mausbär zu . "Warum hast du dir nie einen geholt?", fragte er. "Weißt du , wir Steinböcke können zwar wunderbar klettern, aber in diesen Höhlen können wir nichts sehen. Es ist dort so dunkel, dass du erst weißt, dass du Pfoten hast, wenn sie deine Nasenspitze berühren. Aber sehen kannst du sie dann immer noch nicht. Und mit meinen Hufen kann ich keine Fackel halten. Außerdem sind die Gänge dort wie ein Labyrinth und jede Höhle soll wie die andere aussehen. Würde sich dort jemand verlaufen, so müsste er verhungern!" "Aber... aber ich habe Pfoten und kann Fackeln halten!" rief der kleine Mausbär aufgeregt. Er wünschte sich nun nichts mehr auf dieser Welt als einen solchen Sonnenstein. Oh, was täte er nicht alles dafür ! " Ich will es versuchen! Bitte zeige mir den Weg ! Bitte! Ich muss so einen Stein haben!" Nachdenklich nickte der Steinbock. "Vielleicht könntest du es schaffen. Und ich würde wirklich gerne wieder einen Sonnenstein sehen. Komm erst einmal mit mir in die Berge. Dann werden wir sehen , ob du es dir nicht doch noch anders überlegst ."

Schon am nächsten Morgen zogen sie los. Aber natürlich erst nachdem der kleine Mausbär sich von seinen Freunden verabschiedet hatte und jeder ihm die Daumen drücken und ganz fest an ihn denken wollte. So sollte es wohl gut gehen.
Der Weg war weit und die beiden Freunde waren viele Tage unterwegs. Immer steiler ging es hinauf und immer steiniger wurde die Gegend. Der Steinbock Hoch-Hinaus nahm den kleinen Mausbär nun oft Huckepack , weil es so viel schneller ging.
Dann, als der Mausbär dachte, die Reise ginge nie zu Ende, waren sie da. Wohin er auch sah waren hohe Berggipfel, tiefe grüne Täler und karge Hänge. Ja, dachte er, Hier mag es so was schönes wie den Sonnenstein geben. Denn hier war er der Sonne so viel näher als in seinem Wald. Wunderschön war es hier, so hell und weit und die Luft so klar.
Schon bald erkannte er ihr Ziel: Eine Höhle , so hoch, dass zehn normale Bären übereinander darin stehen könnten. "Boh", machte der kleine Mausbär. Hoch-Hinaus lächelte und sagte: "Bald wird es dunkel. Wir werden hier unser Lager aufschlagen und morgen bereiten wir alles für dein Abenteuer vor." Schnell waren die erschöpften Wanderer tief und fest eingeschlafen . Unser Mausbär träumte in dieser Nacht von seinem Sonnenstein und lächelte im Schlaf glücklich vor sich hin.

Am nächsten Morgen erwachten die beiden sehr früh, aber gut erholt. Was glaubt ihr wohl, wie aufgeregt der kleine Mausbär war ? Am liebsten wäre sofort in den Berg hinein gerannt. Aber es gab zuvor noch viel zu tun. Stolz wies der Steinbock den kleinen Mausbär an , wie er die Fackeln bauen sollte. Das hatte er einmal bei einem Menschen beobachtet und war froh, es sich gemerkt zu haben. Er wusste auch von Steinen, die Feuer machen können , wenn man sie zusammenschlägt. Also machte der kleine Mausbär viele Fackeln, die er sich auf den Rücken binden wollte und der Steinbock Hoch-Hinaus suchte die richtigen Steine , um sie anzuzünden. Am Mittag waren sie damit fertig. "So", sagte der kleine Mausbär, "Nun brauch ich noch etwas Proviant und es kann losgehen!" "Und was bitte sehr willst du gegen das Verlaufen unternehmen?" fragte Hoch-Hinaus. "Oh jemine!", jammerte der kleine Mausbär. "Daran habe ich ja noch überhaupt nicht gedacht!" Und so saßen sie da und grübelten hin und überlegten her. Nach langem Schweigen stand der Steinbock plötzlich auf und sagte: "Warte hier . Es kann eine Weile dauern !" und verschwand. Erst am Abend , als es schon fast dunkel war, kam er wieder. Er hatte einen riesigen weißen Stein im Maul. "Mit diesem Stein kannst du weiße Pfeile an die Wände malen in der Höhle malen. Dann weißt du immer, wo du schon warst und findest auch den Weg ganz leicht zurück. Es gibt hier wirklich tolle Steine , dachte der kleine Mausbär, aber den allertollsten werde ich mir erst noch holen. "Schlaf dich noch einmal richtig aus!" sagte der Steinbock. "Ich werde inzwischen deinen Proviant besorgen und wecke dich morgen ganz früh. Dann kann dein Abenteuer beginnen." Und so geschah es.
Am nächsten Morgen nahm der kleine Mausbär eine brennende Fackel in die eine Pfote, band sich seinen Proviant und die Feuersteine vor den Bauch und die restlichen Fackeln auf den Rücken. In die andere Pfote kam der weiße Stein und los ging es.
Langsam ging er durch den Eingang der Höhle. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Dann sah er, dass er sich in einer großen Halle befand, vom der mehrere Gänge in die Dunkelheit führten. "Viel Glück rief der Steinbock Hoch-Hinaus von draußen. "Vergiss nie die Pfeilen an die Wände zu malen ! Und komm wieder, wenn die Hälfte der Fackeln abgebrannt sind oder wenn dir der Proviant ausgeht. Hast du mich verstanden?" "Ja!" rief der kleine Mausbär zurück und: "Drück mir die Daumen!" Und schon schritt er frohen Mutes auf den mittleren Gang zu. Es war sehr still und dunkel dort drinnen. Nur manchmal hörte er ein Steinchen kullern oder irgendwo in der Dunkelheit einen geheimen Bach plätschern.
War er doch am Anfang noch gut gelaunt und mutig gewesen, so wurde der kleine Mausbär immer stiller und sein Schritt immer langsamer. Er leuchtete mal in die eine Höhle, mal in den anderen Gang. Er sah auch viele schöne glitzernde Steine, aber nicht den einen den er suchte . Immer öfter musste er nun Rast machen, denn er war müde. Wie lange er nun schon unterwegs war, wusste er nicht. Aber die Stille und die Dunkelheit ließen ihn sich sehr, sehr klein und einsam fühlen. Fackel um Fackel schwand dahin und auch sein Proviant wurde immer knapper. Mit diesen Dingen verschwand auch sein Mut. Bald würde er umkehren müssen, ohne den Sonnenstein. So lief er weiter , bis die Hälfte der Fackeln aufgebraucht und fast kein Essen mehr da war. Traurig kehrte er um und suchte mit Hilfe der weißen Pfeile den Rückweg. Wenigsten wollte er paar der anderen glitzernden Steine mitnehmen, damit er nicht mit leeren Händen zurückkäme.
" H I L F E !" Er schrie , er fiel, er suchte halt - und plumpste plötzlich auf seinen Hintern. Vorsichtig bewegte er Vorder -und Hinterpfoten. Alles heile. Zitternd vor Angst und Schrecken zündete er sich eine neue Fackel an und sah sich um. Er war wohl durch den Boden gebrochen und in eine tiefere Höhle gefallen. Auch von hier führten Gänge weiter. Doch wie sollte er den Weg nach draußen finden ? Nach oben ging es nicht - das Loch war viel zu hoch und er kannte auch keinen der Gänge die vor ihm lagen. Oh welch ein Jammer, welch ein Schicksal ! So saß der Ärmste da und weinte. Doch irgendwann, als er mit tränenblinden Augen um sich blickte, sah er ihn. Er musste es sein - sein Sonnenstein. Strahlend und funkelnd, wie tausend Sonnenstrahlen glitzernd sah er ihn eineiner Felsnische liegen, so, als hätte er seit ewigen Zeiten nur auf ihn, den kleinen Mausbär gewartet. Nun flossen Tränen der Freude über sein Gesicht. Vorsichtig nahm er den Stein in seine Pfoten. Warm war er und wunderschön, schöner als alles , was der kleine Mausbär je gesehen hatte.
"ich muss es schaffen!" sagte er zu sich selbst . " Ich muss ihn meinen Freunden zeigen!. Alle sollen an seiner Schönheit und seinem Zauber teilhaben." Tapfer nahm er seine Fackel , leuchtete in jeden Gang und nahm den , der nach oben führte. All seinen Mut nahm er zusammen und seine Kraft und lief immer weiter und weiter. Wenn er müde war und rasten musste, löschte er das Licht, um Fackeln zu sparen. Er aß nur, wenn der Hunger zu arg wurde. Um bei Kräften zu bleiben trank er viel von dem Wasser, das die Wände herab lief. Doch irgendwann war der Proviant aufgebraucht und die letzte Fackel brannte. Wieder hatte er eine Höhle erreicht, wo mehrere Gänge abgingen. " Ich schaffe es nicht mehr. Es ist vorbei." Völlig erschöpft und halb verhungert ließ er sich auf den Boden nieder, sah die Fackel verlöschen und schlief ein. Er träumte. Der arme verlorene Mausbär träumte von seinen Freunden in seinem Wald. Sie spielten Ball und lachten . "Mausbär!" riefen sie. "Wirf den Ball zurück! Mausbär!...Mausbär!...Mausbär!" Er schreckte aus dem Schlaf. Da ruft doch wer! Und dort ist Licht! Nun erkannte er die Höhle wieder .Er war am Ausgang und hatte es vorher nicht bemerkt, weil es draußen noch dunkel gewesen war. Und der Schatten vor dem Licht konnte doch nur der Steinbock Hoch-Hinaus sein ! So schnell er noch konnte lief er zu ihm ans Tageslicht . Oh wie strahlte die Sonne , wie weit und blau war der Himmel und wie gut fühlte sich das Gras an! Das kann wohl nur jemand verstehen, der so lange und so allein in der Dunkelheit gewesen war. Der kleine Mausbär war so glücklich - er hätte sich kugeln können. Ausführlich erzählte der kleine Mausbär dem Steinbock Hoch-Hinaus, was er erlebt hatte und war sehr erstaunt, wie lange er fortgewesen war. Gemeinsam bestaunten sie den Sonnenstein, doch am meisten freuten sie sich über ihr Wiedersehen. Leider mussten sie sich schon bald wieder trennen, denn der kleine Mausbär hatte schreckliches Heimweh und wollte nur noch nach Hause in seinen Wald.
Was soll ich noch erzählen? Die Feier dauerte drei Tage und drei Nächte. Der Sonnenstein bekam einen Ehrenplatz in seiner Sammlung, wo jeder, der möchte, ihn sehen kann. Besucht ihn doch mal. Dann gibt es sicher Tee und Kuchen und der kleine Mausbär erzählt euch vielleicht noch einmal seine Geschichte - so wie er sie mir einst erzählt hat.
© badger

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